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luftbalon

Gedanken aus meinem Turm

Nicht ernst zu nehmende Denkspiele eines Turmwächters ?

jäger

Und hier ist unsere Weihnachtsgeschichte

für 2002


Kartoff und die alte Dame

Kartoff hatte sich einen wahrhaft miesen Tag ausgesucht, um aus seinen noch mieseren Leben zu scheiden. Die Wolken hingen bis über die Dächer der Häuser und aus ihnen fiel Schneegrieß, der ihn immer wieder die Tränen in die Augen trieb. Nach langen Nächten der Kälte und den endlos langen Tagen ohne richtige Nahrung, ohne irgendwelche Kontakte zu anderen Menschen, hatte er es beschlossen, mit seinem jämmerlichen Dasein endlich ein Ende zu machen. Es abzuschließen. "Warum soll ich weiter machen", sprach er mit sich selbst, "warum soll ich schlimmer wie ein Wurm über diese verdammten Straßen schleichen, in denen es weder Menschen noch Brot noch sehende Augen gibt".

Natürlich gab es Menschen auf diesen Straßen, mehr als sonnst in den Tagen der Dunkelheit, in den Tagen vor Weihnachten. Ganz im Gegenteil. Eilend drängten sie sich von einem Geschäft in das andere, von einem Weihnachtsstand zum nächsten. Wer hatte da schon Zeit sich um Kartoff zu kümmern, wer konnte ihn überhaupt wahrnehmen. Wo sie doch alle in der Vorbereitung für das Fest der Freude und der Liebe voll eingebunden wahren. Damit ja nichts fehlte und an alle gedacht war.

Nur an Kartoff nicht. Etwas süßsauer lächelnd hatte er sich in einem Hauseingang untergestellt und schaute mit Verachtung auf das hektische Treiben, auf weinende Kinder, die die Hand ihrer Mutter nicht mehr fanden, auf rücksichtslose Frauen, die ihre Männer wie einen Hund an der Leine hinter sich herzogen, auf die prall gefüllten Stände mit gegrillten Würsten, herrlich duftenden Glühwein, Schokoladen und gebrannten Mandeln. Kartoff schluckte, wühlte in seinen ausgebeulten Taschen und fand in einer Ecke noch ein paar Centstücke. Zu wenig um kaufen zu können und zu viel, um es einen anderen zu überlassen. Zornig stampfte er auf den Boden und fluchte leise vor sich hin, "was bin ich nur für ein Idiot, ich gehöre nun mal nicht mehr hier her. Es ist kein Platz mehr für mich. Also bringen wir es hinter uns!" Kartoff drehte sich um und wollte in das Haus gehen, was er schon Tage zuvor ausgesucht hatte, um sich hier vom Dach aus in die brodelnde Menge der Weihnachtshysterie zu werfen. Er rutsche mit einem Fuß auf etwas aus, was ihm beinahe zum Straucheln gebracht hätte. Verwundert, ja fast erschrocken hielt er inne und schaute auf den Gegenstand, der ihm von seinem Vorhaben abzuhalten schien. Es war ein Zehneuroschein, der unter seinen Füßen lag und sich mit dem Matsch des Schneegrießelns zu verbinden drohte. "Du kommst zu spät mein Freund", sagte er bitter und wollte schon auf seinem Weg zum Dach weitergehen. Hielt plötzlich an, lächelte etwas verschmitzt und meinte lakonisch, "komm her, vielleicht machst du mir den Weg etwas leichter die tausend Stufen zum Glück zu gehen", hob den Schein auf, wischte ihn umständlich trocken und glatt und hielt dabei Ausschau nach einen günstigen Platz an dem Stand, wo es so gut nach Glühwein und den gegrillten Würsten roch. Es wird eng werden, dachte er für sich, ging mit zittrigen Beinen auf den Stand zu und kaufte sich einen Glühwein. Umständlich drängte sich Kartoff durch die Massen der Leute und fand endlich einen kleinen Sims an der Mauer des Hauses, wo er seinen Becher für einen Moment abstellen konnte. An den aufgestellten Tischen sich einen Platz zu ergattern, hatte er gar nicht erst versucht. Was sollte er dort, meinte er. Was soll ein Versager, ein Nichts an den Tischen der Erfolgreichen, der Könner, der Gewinner. Da zog er sich lieber in den äußersten Winkel zurück. Schaute zu, wie die Anderen lebten, und war ihnen nicht einmal neidig. Zumindest in diesen Moment nicht. Aus seiner Brusttasche zog er einen schon arg verdrückten Zigarettenkippen heraus, strich ihn sorgfältig glatt und steckte ihn mit einen der heute üblichen Wegwerffeuerzeuge an. Die Zigarette im Mundwinkel und die eiskalten Hände am Glühweinbecher wärmend, stand er in seiner Nische des Lebens und wurde jetzt fast unsicher ob sein Entschluss, der richtige sein mag. Ob es für ihn tatsächlich besser were, einfach zu gehen, ohne die Entscheidung von oben abzuwarten. Natürlich ist es besser so, beschwichtigte er seine eigenen Skrupel. "Hat er mich bis jetzt nicht gesehen und geführt, wird er es auch nicht sehen, wenn ich einfach gehe. Einfach die Tür zu machen und fertig. Bin lang genug in zugigen Fluren gestanden, hab zu oft vergebens an Türen geklopft die keine Klinken hatten und zu oft auf Menschen gewartet, wo nur schemenhafte Gestalten herumwanderten."

Wie zur Bestätigung seiner Gedanken nahm Kartoff wieder einen kräftigen Zug aus seinem Becher, fühlte, wie wohlig warm er durch seinen Rachen in den leeren Magen strömte, und fühlte sich jetzt fast etwas benommen. War es der Wein, war es der Hunger, den er seit Tagen schon verspürte? Es ist eine der größten Quälereien, die sich die Menschheit ausgedacht hat, dass es Leute gibt, die zwischen randvoll gefüllten Buden stehen, angefüllt mit den köstlichsten Dingen der Welt, und die dabei Hunger haben. Kein Geld sich an diesem Schlemmermahl 'Weihnachten' beteiligen zu können, keine Hoffnung unter einem festlich geschmückten Weihnachtsbaum im Kreise ihrer Familie feiern zu dürfen. Keine Zukunft für den nächsten Tag, ja nicht einmal für die nächsten Stunden. Kartoff kramte wieder in seinen ausgebeulten Taschen, nahm den letzten Schluck aus dem Becher, zählte seine Münzen durch und beschloss sich noch einen Becher der Träume, einen Becher der Wärme und der Glückseligkeit zu kaufen. Für ein vernünftiges Essen würde es so und so nicht reichen. Also warum sollte er dann sein letztes Mahl nicht in dieser Form zu sich nehmen, denn immer noch war er fest entschlossen, diesen Tag zu seinen Letzten zu machen, obwohl seltsamerweise der Drang dazu nicht mehr so stark, es ihm nicht mehr so zwingend erschien, wie noch vor einer halben Stunde.

Endlich war er an der Reihe in der langen Schlange der wartenden, heiter miteinander und über so manchen Tisch hinweg plaudernden Menschen, nahm seinen frischen, heißen Becher mit Glühwein und versuchte ihn schnellstens wieder zu seinem Mauersims zu schaffen. Es glückte ihm aber nicht ganz. Ein vom Feiern schon etwas erröteter junger Mann drängte sich an den Stand, erwischte in seiner burschikosen Art den Becher von Kartoff und gut die Hälfte des heißen Getränkes rann Kartoff dabei über seine Hand. Erschrocken schaute er den jungen Mann an, fing instinktiv mit der anderen Hand den Rest Becher auf und versuchte sich noch zu entschuldigen. Der Rotgesichtige verspürte jedoch nicht die leiseste Schuld an Kartoffs Missgeschick, beschimpfte ihn als Penner und das man so etwas überhaupt nicht auf die Straße lassen sollte. Kartoff lief rot an, versuchte seine verbrühte Hand an der kalten Außenseite seiner Jacke etwas abzukühlen und machte sich mit dem Rest in seinem Becher auf den Weg zu seinen Mauersimms. "Ich hätte ihm eine runter hauen sollen", dachte er sich im Stillen als er seinen Becher abstellte, "ich hätte ihm den Rest in sein rot angelaufenes Gesicht schütten sollen, damit er weiß wie gut das tut andere Leute in Bedrängnis zu bringen". Er schnaufte tief durch, versuchte seinen Zorn über das Verhalten des jungen Mannes zu unterdrücken und nahm einen kleinen Schluck von dem Rest, der in den Becher zurückgeblieben war. Die andere Hand brannte noch höllisch von dem heißen Glühwein und vorsichtig legte er sie an die vom Frost durchgekühlte Mauer. Das schaffte ihm Erleichterung, nahm die Hitze aus der Hand und aus seinen Gedanken. Er lies den Blick über seine Kleidung schweifen, betrachtete die anderen und konnte selbst nicht viel Unterschied erkennen, zwischen ihnen und seiner eigenen Gestalt. 'Penner' hatte ihm der andere genannt und dass so etwas nicht auf die Straße gehört. Das machte Kartoff noch trauriger als er es eh schon war. Nichts sehend starrte er in die Masse der fröhlichen, ausgelassenen Menschen, der Menschen die sich auf das Fest des Jahres vorbereiteten und jetzt schon eine Freude ausstrahlten, die durch das tatsächliche Fest kaum noch zu überbieten sein wird. Ein paar Tränen rannen ihm über seine unrasierten Wangen, doch er bemerkte sie selber nicht mehr. Zu oft war er in den letzten Jahren in solchen Situationen, zu oft hatte er sich einsam und verlassen, hungrig nach Liebe und Zuneigung gefühlt. Da bemerkte er es kaum noch, wenn sich seine Seele etwas Platz schaffte, wenn sie ihm die Tränen in die Augen trieb.

Wie durch einen schützenden Schleier sah er jetzt dieses rote Gesicht des jungen Mannes wieder in der Menge auftauchen. Eine ältere Frau unterhielt sich mit ihm angeregt. Aber das Gespräch schien nicht freundlich, fröhlich, weihnachtlich zu sein. Im Gegenteil. Der junge Mann wehrte sich gegen das, was die Frau ihm sagte, langte sich an den Kopf und gab ihr anscheinend zu wissen, dass sie nicht ganz klar in Ihrem sei. Die alte Dame schien das nicht zu beeindrucken. Sie langte dem Jungen kurzerhand an seine Gesäßtasche und im Nu hatte sie seine Geldbörse in der Hand. Kartoff schüttelte sich das Bild aus dem Kopf, schaute absichtlich in eine andere Richtung und war der Auffassung, dass es sicher seine Mutter sein würde, die versuchte ihren Sohn von dem übermäßigen feiern abzuhalten. Wieder in seine Endzeitgedanken verstrickt, bemerkte er es nicht, dass die alte Dame plötzlich, freundlich lächelnd und mit einen Anhauch vom Sieg in den Augen und in der Haltung der Gestalt, neben ihm stand. Erst als sie ihn anstiess und einen Becher frischen Glühwein unter seine Nase hielt, reagierte er fast erschrocken.

"Ja nun nimm schon", forderte sie Kartoff mit resolutem Tonfall auf und fragte wie nebenbei ob es der Hand schon besser geht. Kartoff war verstört, wusste im Moment nicht was er mit dieser Frau und dem angebotenen anfangen sollte, ob er es überhaupt annehmen soll.

"Nimm nur Junge", meinte sie aufmunternd, "nimm, es wird dir gut tun. Ich habe es diesem Burschen da abgenommen, der dich in Verlegenheit gebracht hat, der dir den letzten Becher über deine Hand geschüttet hat. Nimm und trink, es wird dir sicher gut tun."

Kartoff schaute der alten Dame in ihre blauen, lustig blickenden Augen, schaute auf den Becher, nahm in zögerlich in seine etwas unruhig gewordene Hand und stellte ihn neben den fast leeren Becher auf dem Sims ab. Er war verlegen, räusperte sich kurz und versuchte seine Bartstoppel von den restlichen Tränen zu befreien, die ihm kurz zuvor noch über die Wangen gelaufen waren. Unterdessen war die alte Dame wieder zu dem Stand gegangen, hatte gebrannte Mandeln und noch einen Becher mit Glühwein gekauft und stellte sich wieder neben Kartoff.

"Ein wunderschöner Tag", meinte sie, während sie ihren Becher neben den von Kartoff stellte, "ein wunderschöner Tag, meinen sie nicht auch?"

"Na ich weiß nicht," erwiderte Kartoff zögerlich, für mich scheint das alles wie eine Zirkusvorstellung zu sein, die ich mir zwar anschaue, mit der ich aber nichts zu tun habe".

"Das scheint nur so, junger Mann, das scheint ihnen nur so. Sie stehen doch mitten drin in dieser Aufführung, sie waren sogar einer der Akteure, oder nicht? Wer hat denn die verbrannte Hand, wer hat denn einen leeren Becher und wer hat sich denn mit so einem Rüpel abtun müssen, dass waren doch sie, oder?"

Kartoff musste lachen, nahm den letzten Schluck aus seinem Becher, warf ihn in hohen Bogen in einen der umherstehenden Körbe um gleich den neuen, warmen Becher in seine kalte Hand zu nehmen und mit der alten Dame anzustoßen. "Zum Wohl die Dame", sprach er jetzt die alte Frau freundlich an, " und vielen Dank für ihre Hilfe. Ich hätte dass nie geschafft".

"Das glaub ich dir aufs Wort mein Junge, dass glaub ich dir. Mein Mann, Gott hab ihn selig, mein Mann war in solchen Sachen auch so. Ja nicht anecken, immer freundlich, immer dienstbar. Und was hat er davon gehabt? In der Bank haben sie ihn erschossen. Ja, einfach abgeknallt. Am helllichten Tag einfach umgelegt. Dabei war er doch schon dabei, dass Geld zusammen zu raffen, um es diesen Heini vor dem Schalter zu geben. Aber irgendwie muss er eine Bewegung gemacht haben, die diesen Burschen, diesen Bankräuber, nervös gemacht hat. Und da musste mein Herrybert sterben. Er war ein guter Mann, mein Herrybert. Aber seit sie mir ihn genommen haben, seit dem hab ich mir geschworen, jede Rüpelhaftigkeit anderen gegenüber sofort zu ahnden. Ich hab nichts zu verlieren. Ich stehe am Ende meiner Tage nicht am Anfang. Und das macht vieles leichter. Man muss nicht mehr überlegen, ob es Schaden bringt oder nicht. Alles Quatsch. Eigentlich sollte man darauf nie achten. Unser Leben wäre vielleicht etwas rustikaler aber so manche Entscheidung würde sofort auf dem Tisch liegen und nicht erst in hundert Jahren".

Für einen Moment war es still zwischen den Beiden geworden. Kartoff´s Gedanken hatten sich augenblicklich an den Satz mit der Rüpelhaftigkeit geheftet und er wusste nur zu genau, was die alte Dame dachte und was sie nun, in ihren letzten Jahren, lebte. Er wusste aber auch, dass er zu solchen Reaktionen nicht jetzt und hier und überhaupt nie fähig sein würde. Sich selbst gegenüber konnte er aber manchmal sogar grausam sein. Für vermeintliche Fehler, die er beging, hatte er sich in früheren Zeiten sogenannte Busen auferlegt. Keine Zigaretten, keinen Wein am Abend, keine vergnügliche Runde mit seinen Freunden in irgendeiner Kneipe der Stadt oder keinen Urlaub an der See und dafür irgendwo arbeiten. Für nichts, für die anderen. Manchmal schien er ein Heiliger zu sein und seine Umwelt spürte es, verdrängte es, wollte es nicht wahr haben, dass es gute, wirklich gute Menschen unter ihnen geben sollte. Und das brachte Kartoff an diesen Punkt seines Lebens, an dem er jetzt stand. Einsam, verlassen von Frau und Kindern, ohne ein Dach über den Kopf, ohne Job und ohne zu wissen, ob er den nächsten Tag etwas zu essen haben würde. Die alte Dame riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Sie hatte es plötzlich eilig, prostete ihm mit dem Becher zu, leerte ihn in einem Zug, stopfte Kartoff die die frisch gebrannten Mandeln in seine Tasche, wünschte ihm noch einen fröhlichen Tag und etwas mehr Mut zum Leben. Dann verschwand sie einfach in der Menge.

"Seltsame Frau", ging es Kartoff durch den Kopf, "kämpft für mein Wohlergehen, schafft es sogar mich etwas aufzumuntern und geht. Na ja, vielleicht muss es so sein. Und trotzdem werde ich meinen Weg zu Ende führen, oder vielleicht gerade deshalb. Irgendetwas muss ich schon an mir haben, dass sie sich zum Schluss alle von mir wenden".

Kartoff schaute sich wieder abschätzend von oben bis unten an, drehte sich zur Wand und sog langsam die letzten Schlucke des Bechers in sich hinein. Als er auch diesen geleert hatte, räumte er seinen Mauersimms auf, entsorgte die Becher, schob mit dem Fuß die am Boden liegenden Zigarettenkippen beiseite und machte sich auf den Weg in das alte Haus, dessen Tür tagsüber immer offen war. Vorsichtig schaute er sich um, wie ein Dieb, dessen Anwesenheit nicht entdeckt werden sollte, dessen Tun keiner sehen durfte und sollte. Dabei war er nur darauf aus sich selbst etwas anzutun, sich das vermeintlich kümmerliche Leben zu nehmen.

Die fünf Treppen zum Dachgeschoss schienen ihm endlos zu sein. Manche der alten Treppen knarrten so, dass er immer wieder erschrocken stehen blieb, in die Dunkelheit und Stille des alten Hausaufgangs lauschte, um sich dann noch vorsichtiger dem angestrebten Ende seines Weges zu nähern. Endlich am letzten Treppenabsatz angekommen, setze er sich erleichtert auf die Fensterbank und kramte dabei in seinen ausgebeulten Taschen, so als wolle er nun die Reste seines Lebens noch einmal zusammen suchen. Was er fand, war die Tüte mit den gebrannten Mandeln. Er nahm sich ein paar von ihnen und zermahlte sie geräuschvoll zwischen seinen Zähnen. Umständlich versuchte er jetzt das große, alte Fenster zu öffnen. Als er es endlich geschafft hatte, drangen die Weihnachtslieder und das Lachen der Menschen vom Markt herauf. Kopfschüttelnd legte er die Tüte mit den Mandeln auf die Fensterbank, versuchte auf die Straße zu schauen und konnte doch nur einen Blick über die Dächer seiner Stadt werfen, die er einmal vom tiefsten Grunde seines Herzen geliebt und durchlebt hatte. "Vielleicht ist es besser, wenn ich den Abgrund nicht sehe", murmelte er vor sich hin, stieg jetzt auf die Fensterbank und konnte aber auch jetzt nicht in die Tiefe schauen. Das Vordach versperrte ihm die Sicht. Fast etwas enttäuscht darüber, dass er den Weg nicht sehen konnte, den er jetzt nehmen wollte, setzte er sich auf das Fensterbrett, nahm wieder Mandeln aus der Tüte, zermahlte sie und schüttelte wieder verständnislos mit dem Kopf. Ein Quietschen lies ihn aufschrecken. Eines der Fenster neben dem seinen wurde geöffnet und die alte Dame, die sich auf der Straße um sein Wohlbefinden gekümmert hatte, war dabei ein Vogelhäuschen mit frischem Futter zu versorgen. Wie nebenbei und ohne Kartoff anzuschauen, fragte sie ihn, ob es ihm auf der Straße zu eng geworden sei und er jetzt vielleicht hier die schöne Aussicht genießen wollte. Kartoff lief wieder rot an, fühlte sich mit seinem Vorhaben ertappt und scharrte wie ein alter Gaul mit einem Fuß auf dem Blechdach. Die alte Dame wartete nicht auf eine Antwort von ihm sondern machte ihm den Vorschlag, dass er diese Aussicht auch bei ihr genießen könne. Und das sicher einfacher als auf der Fensterbank. "Kommen sie zu mir rein junger Mann", forderte sie Kartoff freundlich auf, "ich habe einen kleinen Balkon dort an der Ecke und sie können den Weihnachtsmarkt gern von da aus beobachten". Verlegen senkte Kartoff den Kopf, suchte nach einer Ausrede, wollte seinen Weg zu Ende gehen, den er hier und heute angefangen hatte. Doch es schien ihm nicht zu glücken. Etwas war da über ihm, was immer dafür sorgte, dass er in eine andere Richtung gehen sollte und musste. "Nun kommen sie schon", drängte die alte Dame, "ich hab frischen Tee gemacht und mit etwas Rum wird er auch ihnen gut tun. Außerdem ist es sicher auf der Fensterbank nicht so bequem wie bei mir. Da können sie sicher sein!"

Jetzt, etwas angespannter, wartete sie auf Kartoff´s Entscheidung. So, als wüsste sie genau, was hier vor sich gehen sollte und sie es mit allen Mittel zu verhindern suchte. Mit einem verlegenen Lächeln schaute Kartoff kurz zu der alten Dame und meinte fast resigniert, "sie haben gewonnen, ich komme".

Umständlich und fast ein wenig widerwillig zwängte sich Kartoff durch das Fenster in den Hausgang und steckte den Rest der gebrannten Mandeln wieder in die Tasche. Denn noch wusste er nicht, wie das alles ausgehen würde und was er morgen zu beißen hätte, falls es doch noch einen Morgen, einen Weihnachtsmorgen und ein Weihnachtsfest für ihn geben sollte. Knarrend ging die große Tür zu der Wohnung der alten Dame auf und sie stand mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht an der Seite und bedeutete Kartoff mittels einer großen, einladenden Handbewegung auf, in ihre Wohnung einzutreten. Nervös an seiner abgeschabten Kleidung herumzupfend und ein verlegenes Lächeln auf den Lippen trat er zaghaft ein und wurde von einer wohligen Wärme empfangen. Gierig zog er jetzt den weihnachtlichen Tuft ein, der sich wie ein schützendes Tuch auf die Räume gelegt hatte und lies sich von der alten Dame in die große Wohnküche führen. Erstaunt stellte Kartoff fest, dass die alte Dame schon für zwei gedeckt hatte. Hatte sie am Ende auf jemanden anderes gewartete, war er wieder nur ein lästiger Pflegefall, ein Heimatloser? Er hielt inne, wollte sich wieder umdrehen um zu gehen. Doch die alte Dame stellte sich einfach in seinen Weg. "Nun sind sie nicht albern, nehmen sie Platz. Ich habe auf sie gewartet!"

"Wie können sie auf mich gewartet haben", fragte Kartoff, immer noch verunsichert zurück. "Kein Mensch kann wissen, was ihm wirklich in den nächsten Minuten passiert".

Sie ignorierte seine Frage, überhörte einfach, was er gesagt hatte, ging zu dem alten Herd, in dem noch richtiges Holzfeuer brannte, und machte sich mit der Teekanne zu schaffen. Kartoff hatte sich den Stuhl ausgesucht, der am nächsten zur Tür stand, beobachtete seine Gastgeberin, wie sie Tee und Plätzchen vorbereitete, und spürte unverhoffte Wärme in sich aufsteigen. Nicht nur durch seine dicken Jacken, die er anhatte, nein, es war eine Wärme, die tiefer lag, die er schon seit Jahren nicht mehr verspürt hatte. Die Wärme der Seele, der Geborgenheit. Hatte er am Ende auf seinen Weg in den gewollten Tod eine Herberge gefunden, einen Platz, der ihn behütete und beschützten wollte? So als wären ihm seine Gedanken lästig, schüttelte er sich, zog seine Jacken zurecht und schaute mit verlorenem Blick durch das Fenster auf die Dächer seiner Stadt. "Sie sollten vielleicht eine ihrer Jacken ausziehen", riss ihm die alte Dame aus seinen Gedanken, "sonnst werden sie dahin schmelzen wie ein Lebkuchen in der Sommersonne, meinen sie nicht auch?" Verlegen schaute er wieder auf seine Kleidung, schaute der alten Dame zu, wie sie ihm Tee einschenkte und dabei eine kleine Karaffe mit Rum an seinen Platz stellte. "Na nun machen Sie schon", wiederholte sie resolut, "machen wir es uns doch bequem. Der Tod kommt noch schnell genug in unsere Gegend. Da sollten wir die Zeit nützen mein Lieber und nicht rumsitzen wie ein Karnickel, was auf den Biss der Schlange wartet".

Erschrocken schaute Kartoff seine Gastgeberin an. Sie wusste es, sie wusste alles. Sie hatte ihn durchschaut, hatte ihm, den alt gewordenen Kartoff, in die Seele geschaut und gesehen das Er den Mut verloren hatte, dass er an nichts und niemanden mehr glaubte, nicht einmal an sich selbst. Mit einem süßsauren Lächeln auf dem Gesicht, begann er die verbeulte Winterjacke auszuziehen. Legte sie sorgfältig zusammengelegt auf einen Stuhl und begann an seinem Tee zu schlürfen. "Sie haben mich durchschaut liebe Frau", begann er nachdenklich und über den Rand seiner Tasse die alte Dame dabei musternd, "sie wussten genau, was ich da auf der Fensterbank vorhatte und was ich immer noch tun werde".

"Wollen sie es wirklich noch?", fragte sie forschend zurück und reichte ihm den Teller mit Weihnachtsgebäck, " ich werde sie nicht unbedingt aufhalten. Aber ich werde sie auch nicht so einfach gehen lassen. Das dürfen sie mir glauben!"

"Was wollen sie dagegen tun, oder was würden sie tun, wenn ich es hier und jetzt machen würde. Wenn ich einfach von ihrem kleinen Balkon mich auf die Menge dort unten werfe?"

"Ich würde sie begleiten", antwortete sie bestimmt und in einem Ton der keine Zweifel offen lies.

Kartoff schien seinen Ohren nicht zu trauen, schaute sie mehr als verwundert an und wiederholte fragend die Worte der alten Dame "ich würde sie begleiten?"

"Ja, was gibt es daran zu zweifeln?", antwortete sie und schenkte dabei Kartoff einen kräftigen Schluck von dem Rum in seinen Tee. "Ich würde sie einfach begleiten. Wir sind zwei einsame Menschen geworden und warum sollen sich zwei Einsame nicht finden und wenn es auf dem Weg in den Tod ist. Warum nicht mein Lieber. Oder haben sie einen anderen Vorschlag?"

Kartoff´s aufgeheizte Gesichtsfarbe begann sich zu verändern, wurde aschfahl und seine Blicke trafen die alte Dame, wie die Blicke eines kleinen, verloren gegangenen Kindes, das verzweifelt nach seiner Mutter Ausschau hält. Nach dem Er seinen Tee hastig ausgetrunken hatte und der Rum schlagartig seine Wirkung tat, stütze er den Kopf in beide Hände und lies die alte Dame nicht mehr aus den Augen. "Sie wollen also einfach den Weg mit mir gehen, einen Weg ohne Wiederkehr?"

"Ja", antwortete sie, ohne zu zögern. Kartoff schüttelte sich, raufte sich durch seine schon etwas grau gewordenen Haare und außer Fassung geraten, schrie er fast, "das geht doch nicht! Sie sind doch die Einzige, die mir in diesem jämmerlichen, kotzigen Weihnachtstrubel geholfen hat. Keiner hätte nur einen Finger für mich krumm gemacht. Die Anderen hätten mich vielleicht noch beschimpft, wenn ich mich nicht zurückgezogen hätte. Hätten mich als Penner hingestellt und vom Weihnachtsmarkt getrieben. Und jetzt wollen sie bis zum Ende meines beschissenen Lebens mitgehen? Das verstehe, wer mag, ich nicht und ich werde es auch nicht zulassen!"

Kartoff hatte wieder Farbe bekommen. Seine ganze Haltung veränderte sich schlagartig. Hatte die Demutshaltung, das Schlaffe, das - nicht mehr wollen - verloren. Solange es um seine eigene Person gegangen war, war ihm alles gleich geworden. Doch nun, da sich endlich wieder jemand um ihn kümmerte, da er wieder wahrgenommen wurde, als Mensch betrachtet wurde, jetzt sollte er zulassen, dass genau dieser Mensch mit ihm in den Tod gehen wollte? Das konnte und wollte er nicht akzeptieren und erst recht nicht zulassen. Doch die alte Dame schien mit Kartoff etwas gemeinsam zu haben. Wenn sie einmal eine Sache beschlossen hatte, wollte sie es auch ausführen und lies sich nur schwerlich von irgendjemand davon abbringen. "Ich verstehe sie gar nicht mein Lieber", wendete sie sich an Kartoff unterdessen sie ihm neuen Tee und den unvermeidlichen Rum dazu einschenkte. "Wir haben denselben Wunsch, dasselbe Verlangen eine Situation zu verlassen, die uns nicht behagt, die uns nicht mehr erstrebenswert erscheint. Und sie lehnen es ab, dass ich eigentlich nur dasselbe tun will wie sie: Nur will ich es nicht alleine machen. Zumindest bei diesem Weg sollte man nicht so einsam sein. Er ist schließlich der Letzte, oder?"

Die alte Dame hatte Kartoff in eine Situation gebracht, die ihn nicht mehr auf seinem Stuhl hielt. Stumm ging er durch den großen Raum, vom Fenster zur Wand und wieder zurück, ging in die Richtung der Tür, die zu dem kleinen Balkon führte und wieder zurück zu seinem Tee. "Was haben sie denn mein Lieber?", wendete sie sich wieder an Kartoff und verfolgte jeden seiner Schritte, "ich will ihnen doch nur helfen. Will ihnen beistehen in ihrem Verlangen. Das kann doch nicht schlecht sein."

Ruckartig blieb Kartoff vor der alten Dame stehen, die ohne jede Veränderung ihrer Haltung oder ihres Äußeren an dem Tisch sitzen geblieben war und genüsslich ihren Tee schlürfte.

"Hier geht es um Leben und Tod meine liebe Frau, um Leben und Tod," wiederholte Kartoff und war ganz außer sich geraten, hatte seine Lethargie, sein - nicht mehr leben wollen -, seine ganze verfahrene Situation vergessen. Jetzt ging es ihm darum einen Menschen, der ihm zur Seite gestanden war, vor dem zu bewahren, was er sich in seinen einsamen und tausendmal verfluchten Stunden seines kümmerlichen Lebens ausgedacht hatte. Es war sein Leben und sein Dasein, dem er ein Ende setzen wollte und nicht das Leben eines Freundes, eines Helfers in der Not. "Wie kommen sie nur darauf, mich auf diesen Weg bekleiden zu wollen? Das ist doch Wahnsinn, das ist nicht mehr normal." Kartoff war jetzt vor der Tür zum kleinen Balkon stehen geblieben, schaute nichts sehend über die Dächer und machte einen noch verzweifelteren Eindruck als je zuvor. Plötzlich stand die alte Dame neben ihm, schob dabei Kartoff etwas auf die Seite, öffnete die Tür zum kleinen Balkon und schaute auf den Trubel des Weihnachtsmarktes. Bis zu dieser Höhe waren die Stimmen, die Weihnachtslieder, die tausend Düfte wahrzunehmen, hatte man den Eindruck fast unter ihnen zu sein, die dort kauften, tranken, warteten. Warteten auf das große Fest, auf die Geburt Christi. "Kommen sie", wendete sich die alte Dame an Kartoff, "kommen sie und sehen sie es sich an, wie sie fröhlich sind, wie sie leben und wie sie lachen, wie sie sich freuen das morgen der Heiland geboren wird".

"Meinen sie wirklich das die auf die Geburt Christi warten?", fragte Kartoff ungläubig zurück und stellte sich zaghaft an die Seite der alten Dame.

"Nun, wenn sie schon nicht auf Christi Geburt warten, vielleicht warten sie auf uns. Vielleicht brauchen sie eine kleine Aufmunterung, eine Denkaufgabe für die langen Feiertage." Sie hatte Kartoff an die Hand genommen, zog ihn fest an sich heran und meinte mit einem verschmitzten Lächeln auf ihren alten und doch schönen Gesicht, "na, was ist, wollen wir es wagen? Die Zeit ist gut, kann nie besser sein. Bringen wir es hinter uns. Der Tag hat nicht mehr zu viele Stunden und irgendwann muss es vollbracht werden, meinen sie nicht auch?"

Jetzt begann Kartoff die Fassung endgültig zu verlieren. "Es geht nicht!", schrie er, "ich kann nicht jemanden mitnehmen, der mich akzeptiert, der mir zu essen und zu trinken gibt, der mich überhaupt noch wahrnimmt. Ich kann es nicht!"

"Dann bleiben sie halt einfach hier, oder? Alleine lasse ich sie nicht gehen. Das steht fest. Also was wollen wir nun tun, springen oder leben?"

Kartoff schaute ihr erschrocken ins Gesicht, sah ihre treu blickenden Augen, ihr schönes, gepflegtes Gesicht und spürte den Druck ihrer Hand, die immer noch die Seine fest im Griff hatte. Jetzt war er am Ende seiner Kräfte. Tränen rannen über sein Gesicht und laut aufschluchzend nahm er die alte Dame in seine Arme und drückte sie fest an seine Brust. Sie fuhr im sanft durch sein zerzaustes Haar, drängte ihn behutsam in die Küche zurück und schloss sorgfältig die Tür zum kleinen Balkon.

Sie verbrauchten noch einige Kannen Tee in der kommenden Nacht und der Rum erlebte den nächsten Morgen auch nicht mehr. Aber nur der Rum. Kartoff war seiner alten Dame begegnet und sie ihm. In der darauf folgenden Weihnachtsnacht saßen sie dicht aneinander geschmiegt im Dom und lauschten der Christmesse, lauschten der Geschichte von der Geburt Christi und Kartoff hatte den Eindruck, dass auch er neu geboren war, ein neues Leben hatte, eine Zukunft. Vielleicht keine Zukunft für die große, weite Welt. Aber was zählt das schon, wenn man in der größten Bedrängnis seines Lebens plötzlich einen Menschen gegenübersteht, der sogar den Weg in den Tod mit ihm teilen würde.

Fröhliche Weihnachten

23.12.2002

In diesem Sinne liebe Nachbarn. Bis zum nächsten Mal, herzlichst ihr tomtom.

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